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Interview mit Tatjana von Steiger, Head of Global Policy Outreach
Tatjana von Steiger ist seit 2021 als Leiterin des Global Policy Outreach and Synthesis Center bei der Wyss Academy. Das Ziel von Policy Outreach ist es, zu skalieren, was funktioniert, und auf der globalen politischen Ebene Einfluss zu nehmen.
Tatjana von Steiger
Head of Global Policy Outreach, seit 2021 bei der Wyss Academy
Warum und wie müssen die Ernährungssysteme dringend angegangen werden?
Einerseits verursachen Ernährungssysteme bis zu 30 % der globalen Emissionen, die Landwirtschaft ist für 80 % der Entwaldung verantwortlich und die industrielle Nahrungsmittelproduktion hat massive Auswirkungen auf die Biodiversität. Andererseits gibt es verschiedene Themen, die gleichzeitig angegangen werden müssen – z. B. die Landnutzung, die Umstellung auf eine naturverträgliche Nahrungsmittelproduktion sowie die Überbrückung der Kluft zwischen Produktion und Verbrauch. Dies ist eine globale Herausforderung und eine Aufgabe, die alle angeht. Aber wir müssen sie aufschlüsseln und kontextbezogene Lösungen finden. Als wir in der Wyss Academy unsere Food System Dialogues organisierten, betonten wir den Kern unserer Vision: Damit Naturschutz und menschliches Wohlergehen harmonieren und sich gegenseitig stärken können, muss die Transformation ökologisch und sozial gerecht sein. Deshalb müssen wir bei der Erarbeitung von Lösungen entlang der Nahrungssmittelwertschöpfungskette sicherstellen, dass alle wichtigen Interessengruppen involviert sind.
Warum sind Ernährungssysteme sowohl für den globalen Süden als auch für den Norden – z. B. für die Schweiz – ein dringliches Thema?
Die Nahrungsmittelwertschöpfungskette verläuft grenzübergreifend. Der Klimawandel, der Verlust der Biodiversität und die Ernährungssicherheit betreffen uns alle, unabhängig davon, ob wir im Norden, Süden, Osten oder Westen leben. Das Fazit der Food System Dialogues war, dass wir alle – trotz der grossen Unterschiede zwischen Laos, Kenia und Peru – sehr ähnlichen Herausforderungen gegenüberstehen. Diese Erkenntnisse gewannen wir aus einem regionenübergreifenden Dialog, der dann zu einem globalen Dialog führte. Eine der gemeinsamen Herausforderungen ist die Frage, wie man junge Menschen für die Arbeit in der Landwirtschaft gewinnt. Eine andere Frage, die sich stellte: Wie findet man naturverträgliche Ernährungslösungen? Und die dritte gemeinsame Herausforderung ist die Kluft zwischen Produzenten und Verbrauchern. Die Regionen haben völlig unterschiedliche Rahmenbedingungen. Die Schweiz beispielsweise hat eine stark industrialisierte Landwirtschaft, ganz anders dagegen Laos mit seiner Waldgrenze und einem intakteren Ökosystem oder Kenia mit seinen Viehhirten und immer grösseren Farmen. Wir müssen also jede Region einzeln betrachten und nachhaltige Lösungen finden, die für die lokalen Communitys nicht nachteilig sind. Denn sie sind von einer nicht nachhaltigen Entwicklung am meisten betroffen. Und sie stellen auch sicher, dass Investitionen in den Naturschutz – wenn diese mit ihnen abgesprochen sind – viel eher nachhaltig wirken.
Wer sind die wichtigsten Stakeholder, die die Wyss Academy in einen Veränderungsprozess einbinden möchte?
Stakeholder sind direkt oder indirekt von den Veränderungen betroffen und sie erkennen, dass «business as usual» keine Option mehr ist. Entsprechend sind sie bereit, sich an einem Veränderungsprozess zu beteiligen. In Kenia beispielsweise bringen wir die Viehhirten und die Naturschutzbehörden an einen Tisch. Wir helfen ihnen zu verstehen, dass sie, anstatt sich wegen knapper Ressourcen wie beispielsweise Wasser bekämpfen, zusammenarbeiten und eine gemeinsame Lösung entwickeln können. In der Schweiz bringen wir Bauernverbände und Konsumentenorganisationen zusammen, damit Meinungsverschiedenheiten geklärt werden können. Wir wollen Räume schaffen, in denen diese Gruppen sich an einen Tisch setzen, um ihre Differenzen zu diskutieren, zu überwinden und eine Zusammenarbeit zu lancieren. Dazu müssen wir die Systeme verstehen, in denen sie arbeiten – z. B. die Systeme im Berner Seeland oder in den Feuchtgebieten Kenias –, und wir müssen aufzeigen, wer die verschiedenen Stakeholder sind. Wir, die Wyss Academy, treten selbst als Akteur auf und bringen Wissen aus unseren Forschungsteams, aus der Praxis oder aus unseren Netzwerken in der globalen Politik ein.
Wie binden Sie die Jugend ein?
Die Jugend ist enorm wichtig und die Ernährung ist ein gutes Thema, um mit jungen Menschen in Kontakt zu kommen. So nutzen wir beispielsweise das Thema Ernährung, um in Zusammenarbeit mit Goodwall ein Changemaker-Programm zu entwickeln. Goodwall ist eine globale digitale Plattform für die persönliche und berufliche Entwicklung von 16- bis 25-Jährigen, die diesen Jugendlichen gerechte und inklusive Perspektiven bietet. Mit unserem Programm wollen wir eine neue Generation von Persönlichkeiten fördern, die im Bereich der Ernährungssysteme etwas bewirken und in ihrer Community Veränderungen ermöglichen können. Da wir ihnen nicht einfach fixfertige Lösungen präsentieren wollen, werden wir mit einem jungen Changemaker zusammenarbeiten, der sich uns als Fellow anschliesst und uns bei der Gestaltung des Programms unterstützt. Ziel ist, dass diese Changemaker auch direkt mit unseren regionalen Hubs zusammenarbeiten und an der Inkubation neuer Lösungen mitwirken. Weiter sehen wir unsere Rolle auch darin, verschiedene Bewegungen und Partner zu vernetzen. So haben wir Goodwall mit einer Gruppe namens Bites of Transfoodmation zusammengebracht. Das ist eine neuere Gruppe, die von der Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) unterstützt wird. Bites of Transfoodmation arbeitet an konkreten Projekten, die sich mit der Transformation der Ernährungssysteme befassen. Solche Partnerschaften sind strategisch wertvoll, denn sie ermöglichen es uns, von den jüngeren Generationen zu lernen und gemeinsam dafür zu sorgen, dass Naturschutz und menschliches Wohlergehen harmonieren und sich gegenseitig stärken.
Wie muss die Arbeit nach der offiziellen Erklärung, die die Wyss Academy bei der UNO eingereicht hat, weitergehen?
Wir sind noch eine junge Organisation und die Wyss Academy Declaration on Food Systems ist für uns ein erstes offizielles Statement zu einer Transformation der Ernährungssysteme, die gewährleistet, dass Natur und Mensch gegenseitig profitieren. Doch unser Engagement geht über diese Erklärung hinaus. Es gibt zwei Ebenen: die Aktivitäten und Projekte in unseren regionalen Hubs und die Politik. In unseren regionalen Stewardship-Hubs werden wir mutige, experimentelle Zusammenarbeitsformen zwischen Forscher:innen, Ressourcennutzer:innen, politischen Entscheidungsträger:innen, der Gesellschaft und dem Privatwirtschaft fördern. Wir evaluieren Massnahmen, die die Kluft zwischen Verbrauchern und Produzenten überbrücken. Hier beginnen wir mit einem Visioning-Prozess. Zusätzlich setzen wir auf der politischen Ebene an. So sind wir beispielsweise Mitglied der Konsultationsgruppe, die die Schweizer Regierung bei ihrer neuen Klimaschutzpolitik für Landwirtschaft und Ernährungssysteme berät.